Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat entschieden, dass der Beweiswert ärztlicher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen durch auffällige zeitliche Koinzidenzen mit einer Eigenkündigung erschüttert werden kann. Im vorliegenden Fall sah das Gericht den Verdacht als begründet an, dass die Bescheinigungen der Klägerin lediglich die Kündigungsfrist abdecken sollten und die Arbeitsunfähigkeit nicht ausreichend nachgewiesen war. Das Urteil verdeutlicht die hohen Anforderungen an die Glaubhaftigkeit von Krankmeldungen, insbesondere wenn diese in zeitlichem Zusammenhang mit einer Kündigung stehen.

Sachverhalt

Die Klägerin war vom 1. Mai 2019 bis zum 15. Juni 2022 bei der Beklagten als Pflegeassistentin beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete durch eine ordentliche Kündigung der Klägerin, datiert auf den 4. Mai 2022. Nach dem Vortrag der Klägerin verfasste sie das Kündigungsschreiben am 5. Mai 2022 und übergab es der Beklagten am 11. Mai 2022. In diesem Schreiben beantragte sie unter anderem die Gewährung von Resturlaub vom 1. bis zum 15. Juni 2022 sowie die Zusendung der Arbeitspapiere und eines Arbeitszeugnisses an ihre Privatadresse. Darüber hinaus bedankte sie sich für die bisherige Zusammenarbeit und wünschte dem Unternehmen alles Gute, was nach Ansicht der Beklagten darauf hindeutete, dass die Klägerin bereits zu dem Zeitpunkt vorhatte, nicht mehr an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren.

Ab dem 5. Mai 2022 legte die Klägerin der Beklagten fünf ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, die alle von demselben Arzt ausgestellt wurden. Die Klägerin gab an, dass die Arbeitsunfähigkeiten auf unterschiedlichen Diagnosen basierten und eine psychisch bedingte Belastung durch die Arbeit Ursache für die Beschwerden war, die sich zunächst auch körperlich durch Magenschmerzen äußerten.

Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für diesen Zeitraum mit der Begründung, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht glaubhaft seien. Sie argumentierte, dass die Klägerin am 4. Mai 2022 die Entscheidung zur Kündigung getroffen habe und bereits am Folgetag arbeitsunfähig geschrieben wurde. Die Bescheinigungen deckten genau die Dauer der Kündigungsfrist ab, was den Verdacht nahelegte, dass die Arbeitsunfähigkeit vorgeschoben sei.

Bisheriger Instanzenzug

Das Arbeitsgericht Lübeck gab der Klage statt. Es bewertete die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen als ausreichend für den Nachweis der Arbeitsunfähigkeit.

Die Beklagte legte Berufung beim Landesarbeitsgericht (LAG) Schleswig-Holstein ein, das das erstinstanzliche Urteil abänderte und die Klage abwies. Es führte eine Beweisaufnahme durch, bei der der behandelnde Arzt als Zeuge vernommen wurde. Infolgedessen kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen durch die zeitliche Koinzidenz zwischen der Kündigung und dem Beginn der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit erschüttert wurde. Es sei der Klägerin nicht gelungen, die tatsächliche Arbeitsunfähigkeit überzeugend nachzuweisen.

Die Klägerin legte daraufhin Revision beim Bundesarbeitsgericht (BAG) ein.

Entscheidungsgründe des BAG

Das BAG wies die Revision der Klägerin als unbegründet zurück und bestätigte die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts. Hinsichtlich der Beweislast und des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, stellte das Gericht zunächst fest, dass es gemäß § 3 Absatz 1 Satz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) grundsätzlich der Arbeitnehmerin/dem Arbeitnehmer obliegt, die Arbeitsunfähigkeit darzulegen und zu beweisen. Nach § 5 Absatz 1 Satz 2 EFZG gilt die ärztliche Bescheinigung dabei als gesetzlich vorgesehenes Beweismittel mit hohem Beweiswert. Dieser Beweiswert kann jedoch erschüttert werden, wenn die Arbeitgeberin/der Arbeitgeber* konkrete Tatsachen darlegt und beweist, die Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit begründen. Im zugrunde liegenden Fall hielt es das BAG für auffällig, dass die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin genau mit dem Beginn und der Dauer der Kündigungsfrist zusammenfiel. Dies sei geeignet, den Beweiswert der von der Klägerin vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu erschüttern. Zur Feststellung des Zusammenfallens von Kündigung und Arbeitsunfähigkeit führte das Gericht aus, dass der Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung nicht relevant sei. Es komme allein auf die Kenntnis der Arbeitnehmerin an. Entscheidend sei, dass die Arbeitnehmerin zu einem Zeitpunkt arbeitsunfähig wird, zu dem die Kündigung bereits feststeht und bis zum Ablauf der Kündigungsfrist arbeitsunfähig bleibt. Im konkreten Fall hatte die Klägerin vorgetragen, sie habe das Kündigungsschreiben am 05.05.2022 verfasst, datiert war es vom 04.05.2022. Das Schreiben ging dem Arbeitgeber am 11.05.2022 zu. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen wurden vom 05.05.2022 bis zum 15.06.2022 ausgestellt. Nach Auffassung des BAG hat sich der ernsthafte Kündigungswille der Klägerin bereits am 04.05.2022 manifestiert, so dass Kündigungs- und Arbeitsunfähigkeitszeitraum zusammenfallen. Dabei sei es unerheblich, ob der Kündigungszeitraum durch eine oder, wie im vorliegenden Fall, mehrere Atteste abgedeckt werde. Auch die Tatsache, dass die Atteste unterschiedliche Diagnosen enthielten, ändert nach Auffassung des BAG nichts an der Eignung zur Erschütterung des Beweiswertes.

Das Gericht führt weiter aus, dass die Erschütterung des Beweiswertes eine Frage der Beweiswürdigung sei. Die Beweiswürdigung sei gemäß § 286 Zivilprozessordnung (ZPO) dem Tatrichter vorbehalten und das Revisionsgericht überprüfe lediglich, ob die Würdigung widerspruchsfrei und den Regeln der Logik entsprechend erfolgt sei. Das LAG habe daher alle wesentlichen Umstände berücksichtigt und sei zu einem rechtsfehlerfreien Ergebnis gelangt.

Die Klägerin hatte in ihrer Revisionsbegründung jedoch auch das Vorgehen des LAG gerügt und eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Artikel 103 Absatz 1 Grundgesetz (GG) geltend gemacht. Die Klägerinnenseite argumentierte, das Gericht habe ohne vorherigen Hinweis auf seine Interpretation des Kündigungsschreibens eine Entscheidung getroffen, die für die Klägerin überraschend war. Das LAG war davon ausgegangen, dass die Klägerin bereits am 05.05.2022 keine Absicht mehr hatte an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Sie habe nämlich schon innerhalb des Kündigungsschreibens um die Zusendung der Arbeitspapiere und des Zeugnisses an die Privatadresse gebeten. Zudem habe sie sich bereits zu dem Zeitpunkt für die Zusammenarbeit bedankt und alles Gute gewünscht. Diese Umstände sind auch nach Auffassung des BAG auffällig und erklärungsbedürftig. Die Klägerin lege in ihrer Revisionsbegründung nicht ausreichend dar, warum die Wertung des LAG für sie überraschend gewesen sei. Das Gericht wies die Rüge folglich ab, da die Klägerin nicht darlegen konnte, welche konkreten Tatsachen sie auf einen entsprechenden Hinweis des Gerichts vorgebracht hätte, die zu einer anderen Entscheidung geführt hätten. Es stellte zudem fest, dass Artikel 103 Absatz 1 GG keine umfassende Aufklärungspflicht des Gerichts begründe.

*Verwenden wir in Zukunft wegen der besseren Lesbarkeit ausschließlich das generische Femininum oder das generische Maskulinum, sind hiervon ausdrücklich sämtliche Geschlechter mitumfasst.