Sachverhalt
Der Kläger ist ein Lkw-Fahrer, der circa eineinhalb Jahre bei der Beklagten, einem Transportunternehmen, in Vollzeit beschäftigt war. Laut Arbeitsvertrag standen ihm 24 Tage Erholungsurlaub pro Jahr zu. Am 29.06.2022 kündigte der Kläger. Diese Kündigung ging der Beklagten am 04.07.2022 zu. Am 30.06.2022 ließ sich der Kläger arbeitsunfähig schreiben. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wurde der Beklagten ebenfalls am 04.07.2022 zugestellt. Ausweislich der Bescheinigung litt der Kläger an einer Anpassungsstörung und befand sich in einer mittelgradigen depressiven Episode. Der Kläger verlangte Entgeltfortzahlung für Juli 2022 sowie die Abgeltung von 20 nicht genommenen Urlaubstagen aus dem Jahr 2022. Die Beklagte verweigerte sowohl die Lohnfortzahlung als auch die Urlaubsabgeltung mit der Begründung, der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei erschüttert. Sie argumentierte, dass die Arbeitsunfähigkeit zeitlich genau mit der Kündigungsfrist zusammenfiel und der Kläger bereits vor der Kündigung wegen Unstimmigkeiten über seine Einsätze geäußert habe, dass er kündigen wolle. Darüber hinaus habe der Kläger aus Sicht der Beklagten keinen Anspruch auf 20 Tage Urlaub, da er im Jahr 2021 38 Urlaubstage gewährt bekommen habe und demzufolge 14 Tage seines Urlaubs aus 2022 bereits im Jahr 2021 verwertet worden seien. Ihm stünden nach Auffassung der Beklagten folglich nur noch sechs Tage im Jahr 2022 zu.
Bisheriger Instanzenzug
Der Rechtsstreit wurde in erster Instanz vor dem Arbeitsgericht Siegburg (ArbG) verhandelt. In seinem Urteil gab das ArbG dem Kläger in allen Punkten Recht. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeit sei demnach nicht erschüttert und der Kläger habe Anspruch auf Entgeltfortzahlung für den Monat Juli 2022. Auch hinsichtlich des Urlaubsanspruchs stimmte das erstinstanzliche Gericht dem Kläger zu. Der Urlaubsanspruch für das Jahr 2022 sei nicht erfüllt worden und sei deshalb von der Beklagten in Geld abzugelten. Die Beklagte legte daraufhin beim Landesarbeitsgericht (LAG) Köln Berufung ein. Da der Prozessbevollmächtigte der Beklagten zum ersten Verhandlungstermin jedoch nicht erschien, wurde ein Versäumnisurteil erlassen, das die Berufung zurückwies. Gegen das Versäumnisurteil legte die Beklagte Einspruch ein.
Entscheidung des LAG Köln
Das LAG Köln entschied, dass die Berufung der Beklagten unbegründet sei und erhielt das Versäumnisurteil aufrecht. Zunächst äußerte sich das LAG zum Anspruch des Klägers auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall aus § 3 Absatz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG). Grundsätzlich kann ein Arbeitgeber/eine Arbeitgeberin den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern, wenn berechtigte Zweifel an der tatsächlichen Erkrankung bestehen. Anders als das ArbG Siegburg erkannte das LAG Köln eine Erschütterung des Beweiswerts der ärztlichen Bescheinigung an. Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei bei einer Gleichzeitigkeit von Kündigungszeitraum und Arbeitsunfähigkeit automatisch erschüttert. Auch das von der Beklagten vorgetragene Verhalten des Klägers vor der Kündigung trage zu Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit bei, jedoch sei auch die zeitliche Koinzidenz allein ausreichend, um den Beweiswert der Bescheinigung zu erschüttern. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung löse nämlich keine gesetzliche Vermutung oder Beweislastumkehr aus. Um eine gesetzliche Vermutung zu widerlegen, müssten Tatsachen vorgelegt werden, die dem Beweis zugänglich sind. Das sei hier gerade nicht erforderlich. An den Vortrag des Arbeitgebers/der Arbeitgeberin, der/die* den Beweiswert erschüttern will, sollten im Gegenteil keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Bei Erschütterung des Beweiswerts, wie im vorliegenden Fall, trage der Arbeitnehmer die Beweislast für das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit. Diesen Beweis habe der Kläger durch die Aussagen einer fachärztlichen Zeugin vollumfänglich erbracht. Die Zeugin, eine langjährig tätige Psychiaterin und Psychotherapeutin, habe die Auswirkungen der diagnostizierten Anpassungsstörung glaubhaft erläutert. Patienten litten an einer von außen kommenden Belastung und in der Untersuchung habe der Kläger von Ängsten und Konzentrationsstörungen berichtet. Der Vortrag der Zeugin decke sich auch mit den Angaben des Klägers in der erstinstanzlichen Verhandlung, wo er angab unter Schlafstörungen und starken Kopfschmerzen wegen eines Konflikts am Arbeitsplatz zu leiden. Insbesondere Konzentrationsstörungen, führte die Zeugin weiter aus, könnten zu Fehlern des Arbeitnehmers führen und eine psychische Abwärtsspirale bewirken. Die zusätzlich diagnostizierte mittelgradige depressive Episode deute zudem daraufhin, dass die Symptome bereits gesteigert waren. Das Gericht sieht in den Aussagen der Zeugin unter der Betrachtung der Gesamtumstände, die Bestätigung der Arbeitsunfähigkeit des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum. Das LAG erkennt an, dass sich aufgrund des psychischen Zustands des Klägers, Gefahren im Straßenverkehr ergeben könnten. Zudem deckten sich die Darlegungen der Zeugin mit denen des Klägers, aber auch mit denen der Beklagten. Auch die Beklagte erwähnte die betriebliche Situation und eine Auseinandersetzung mit dem Kläger über dessen Einsatzplanung. Die Zeugin erläuterte weiter, dass Krankschreibungen von einem Monat oder länger bei psychischen Erkrankungen nicht unüblich, sondern der Standard seien. Sie habe ihren Unterlagen außerdem entnehmen können, dass der Kläger auch in der Vergangenheit über längere Zeiträume krankgeschrieben war. Das Gericht befand die Gleichzeitigkeit von Kündigungszeitraum und Krankschreibung unter den vorgetragenen Umständen für nachvollziehbar.
Als zweites war noch die Frage nach der Urlaubsabgeltung zu klären. Die Beklagte war der Ansicht, dass dem Kläger bereits 38 Urlaubstage im Jahr 2021 gewährt worden seien, von denen 14 Tage auf 2022 angerechnet werden müssten, sodass ihm 2022 nur noch sechs Urlaubstage zustünden. Dies sah das Gericht jedoch als unbeachtlich an, da eine Vorwegnahme von Urlaub für das Folgejahr unzulässig sei. Auch eine nachträgliche Anrechnung von zu viel gewährtem Urlaub aus einem Vorjahr auf das nächste Jahr sei grundsätzlich nicht möglich, selbst wenn der Arbeitnehmer dem zustimmt, da dies gegen die grundsätzliche Unabdingbarkeit des Urlaubs verstoße. Der Kläger habe folglich gemäß § 7 Absatz 4 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) einen Anspruch auf die Abgeltung von 20 Urlaubstagen.
Die Revision wurde nicht zugelassen.
Fazit
Das Urteil des LAG Köln stellt klar, dass die Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung allein aufgrund einer zeitlichen Koinzidenz mit einer Kündigung nicht automatisch zur Ablehnung von Entgeltfortzahlung führt. Der Arbeitnehmer hat zwar die Beweislast, kann diese aber durch eine fachärztliche Bestätigung erfüllen.
* Verwenden wir in Zukunft wegen der besseren Lesbarkeit ausschließlich das generische Femininum oder das generische Maskulinum, sind hiervon ausdrücklich sämtliche Geschlechter mitumfasst.