Mit Urteil vom 15.12.2022 hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg entschieden, dass ein gekündigter Arbeitnehmer eine anderweitige Erwerbsmöglichkeit nicht böswillig unterlässt, wenn er eine ihm angebotene zumutbare Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber nicht annimmt (Az. 10 Sa 783/22). Nach dem eher arbeitgeberfreundlichen Urteil aus September 2022 (LAG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 30.09.2022, Az. 6 Sa 280/22), durch welches es für Arbeitnehmer:innen* im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses deutlich schwerer wurde, Annahmeverzugslohn durchzusetzen, folgt nun ein abwägendes Urteil, welches die Rechte von gekündigten Arbeitnehmern stärkt.

Der Sachverhalt

In dem zu entscheidenden Fall stritten die Parteien über die Zahlung von Annahmeverzugslohn. Im Arbeitsrecht gilt der Grundsatz "Ohne Arbeit kein Lohn". Erfüllt ein Arbeitnehmer seine Pflicht zur Arbeitsleistung nicht, verliert er seinen Anspruch auf Vergütung (§ 326 Abs. 1 Satz 1 BGB). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz regelt § 615 Satz 1 BGB für den Fall des Annahmeverzugs des Arbeitgebers. Der Annahmeverzug des Arbeitgebers beschreibt die Situation, in der der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung anbietet, der Arbeitgeber diese aber pflichtwidrig ablehnt. Für die infolge des Annahmeverzugs nicht geleistete Arbeit kann der Arbeitnehmer gleichwohl eine Vergütung verlangen, ohne zu einer Nachleistung verpflichtet zu sein. Er hat also einen Anspruch auf Annahmeverzugsvergütung.

Der Kläger war seit April 2019 bei der Beklagten als Geflügelfiletierer beschäftigt, zuletzt zu einem Stundenlohn von 10,10 Euro. Im Rahmen einer Arbeitnehmerüberlassung wurde der Kläger bei einem anderen Unternehmen eingesetzt. Unter Arbeitnehmerüberlassung versteht man die zeitlich begrenzte Überlassung von Arbeitnehmern zur Arbeitsleistung an einen anderen Arbeitgeber, den sogenannten Entleiher. Im Arbeitsvertrag hatten die Parteien eine Kündigungsfrist von einem Monat zum Monatsende vereinbart. Mit Schreiben vom 24. März 2021 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zum 30. April 2021 und teilte mit, dass der Kläger ab dem 1. April 2021 unbezahlt von der Arbeit freigestellt werde. Daraufhin bot die Beklagte dem Kläger einen vom 1. April 2021 bis zum 31. März 2022 befristeten Arbeitsvertrag mit einem Stundenlohn von 10,07 Euro an.

Der Kläger bot der Beklagten weiterhin seine Arbeitskraft an und verlangte Vergütung für den Monat April. Da die Beklagte nicht zahlte, erhob der Kläger Klage. Er war der Ansicht, dass er nicht verpflichtet gewesen sei, den von der ehemaligen Entleiherin angebotenen Arbeitsvertrag anzunehmen. Die Beklagte war der Ansicht, der Kläger habe dadurch böswillig einen möglichen anderweitigen Erwerb vereitelt.

Mit Urteil vom 14. Juni 2022 gab das Arbeitsgericht Cottbus der Klage statt. Der Vergütungsanspruch des Klägers bestehe aus Annahmeverzug. Insbesondere habe der Arbeitnehmer nicht wider Treu und Glauben gehandelt, als er das Vertragsangebot der Entleiherin nicht angenommen habe. Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt.

Das Urteil des LAG Berlin-Brandenburg

Mit Urteil vom 15.12.2022 hat das LAG Berlin-Brandenburg die Klage zurückgewiesen. Es hat entschieden, dass die Arbeitgeberin während des Bestehens des Arbeitsverhältnisses grundsätzlich zur Zahlung der Vergütung verpflichtet ist. Soweit die Arbeitgeberin den Arbeitnehmer nicht beschäftige, sei sie grundsätzlich nach § 615 S. 1 BGB verpflichtet, die Vergütung dennoch aus Annahmeverzug zu zahlen. Etwas anderes gilt nach § 615 S. 2 BGB nur dann, wenn der Arbeitnehmer es böswillig unterlässt, anderweitigen Verdienst zu erlangen.

Ein Arbeitnehmer unterlässt es böswillig, anderweitig Arbeit zu erlangen, wenn ihm vorzuwerfen ist, dass er während des Annahmeverzugs trotz Kenntnis aller objektiven Umstände vorsätzlich untätig bleibt und eine ihm zumutbare anderweitige Beschäftigung nicht aufnimmt oder deren Aufnahme vorsätzlich vereitelt. Allein aus der Zumutbarkeit der unterlassenen anderweitigen Beschäftigung kann jedoch nicht auf die Böswilligkeit geschlossen werden. Während es sich bei der Böswilligkeit um eine subjektive Kategorie handelt, ist die Zumutbarkeit eine objektive Kategorie.

Es liegt auf der Hand, dass dem Kläger die Fortsetzung seiner bisherigen Tätigkeit an sich zumutbar gewesen wäre. Schließlich war er bereits als Leiharbeitnehmer im Betrieb tätig. Ob es dem Kläger auch zumutbar wäre, die bisherige Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber (der Entleiherin) auszuüben, kann hier dahinstehen, da der Kläger jedenfalls nicht bösgläubig gehandelt hat. Es kann gute Gründe geben, warum ein Arbeitnehmer eine zumutbare Tätigkeit nicht annimmt, ohne böswillig zu handeln. Im vorliegenden Fall hat der Kläger die Kündigung der Beklagten zum Anlass genommen, sich beruflich neu zu orientieren. Er hat auch relativ zeitnah Anfang Mai 2021 eine neue Tätigkeit aufgenommen. Eine Schädigungsabsicht kann dem Kläger nicht nachgewiesen werden. Es war ihm auch nicht vorwerfbar, das ihm angebotene Arbeitsverhältnis in Kenntnis aller objektiven Umstände abgelehnt zu haben. Denn der andere Arbeitgeber hatte dem Kläger nur noch ein auf 12 Monate befristetes Arbeitsverhältnis mit erneuter Probezeit und geringerem Stundenlohn angeboten.

Die Nichtannahme einer zumutbaren Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber stellt daher nicht zugleich ein böswilliges Unterlassen einer anderweitigen Erwerbstätigkeit dar. Es kommt immer auf den Einzelfall an, da die subjektive Komponente der Böswilligkeit konkret festgestellt werden muss.

Wenn Sie Fragen zu einer Kündigung oder zur Lohnfortzahlungs- bzw. Lohnnachzahlungspflicht haben und sich rechtlich beraten lassen möchten, wenden Sie sich bitte an uns.

*Wenn wir im Folgenden ausschließlich das generische Femininum oder Maskulinum verwenden, so geschieht dies ausschließlich aus Gründen der besseren Lesbarkeit.